DIEPUBLIKA oder Traum vom Hang nach Oben unten irgendwie
Minna Wündrich & Christoph Westermeier
2019


Über dem Ort Conceptualana, von dem niemand so genau weiß, wo er liegt, scheint die Sonne. Ein paar pittoreske Wolken haben sich so über Conceptualana platziert, dass sie wahnsinnig gut aussehen, aber keine Schatten werfen. Auf einer dieser luftigen Wolken sitzt Apolloniatota und stimmt die Leier. Apolloniatota hat die Beine übereinandergeschlagen und seufzt. Die schönen Künste sind ihr unschön geworden, ihre Musen sind zerstritten und das ewige Gemecker, wer bei wem geklaut habe, geht ihr auf die Nerven.
Die Leier wird zur Seite gelegt, es wird tief durchgeatmet und die frisch lackierten Nägel werden kritisch beäugt. Apolloniatota hat keine Lust mehr, als leichtbekleideter Nackedei sich um Sonne, Orakel und Co zu kümmern und so gibt sie kurzerhand die Zügel des Himmelwagens dankend zurück an Helios, mistet ihren Kleiderschrank aus, unterzieht sich einer ordentlichen Verjüngungskur und macht sich auf die Suche nach neuen Freunden.

Die sieben alte Freunde, aufgeteilt in die Cliquen Trivium und Quadrivium schickt Apolloniatota in die Wüste und castet sich fortan in schlaflosen Nächten auf Grindr, Tinder und Co einen neuen Hofstaat zusammen.
Das erste gemeinsame Kennenlernen läuft soweit ganz gut. Nashorn Eugène und Sylvia haben sich doch schon neulich mal auf der ja, na klar, auf der hier, Eröffnung von der äh dings, na, hier, du weißt schon getroffen. Der Architekt macht immer einen guten ersten Eindruck. Und Ottilia the Directress und Golden Pigeon go way back.
Apolloniatota ist euphorisch, diese Selbstfindung, diese Neuerfindung, diese Zusammenfindung tut ihr richtig gut. Die Crémantkorken knallen, sie zeigt stolz, was sie hat und schüttelt alle ihre Wolken auf. Die in ihnen gespeicherten Daten fliegen durch die Gegend. Ein Meme ist Sylvia direkt auf der Nase gelandet. Der Architekt versucht sein tatsächliches Geburtsdatum einzufangen. Ottilia the Directress und Golden Pigeon fangen an, sich die verschiedenen Jahrhunderte zuzuwerfen. Nur Nashorn Eugène scrollt sich konzentriert durch die Conceptualana-Archiv-Cloud, bis er unter dem Buchstaben W bei Minna Wündrich und Christoph Westermeier hängenbleibt. Er vergrößert die Szenerie und alle schauen drauf:

Christoph erzählt gerade, dass er, was offensichtlich ist, etwas lädiert sei. Ein ungeschickter, fast grotesk absurder Sturz hatte erst die Klingel seines Fahrrads und dann sein linkes Schlüsselbein zertrümmert und ihn zu einem wehleidigen Manne gemacht. Ruhiggestellt mit Schmerzmitteln und ernährt von Arnika D30 hatte er zuvor einem Herrn Doktor auf die Frage, was seine Arbeit sei geantwortet, dass er im Bereich der Bildenden Kunst arbeiten würde. Dann hatte der Herr Doktor Christoph zum dritten Röntgentermin an diesem Tag geschickt - und ihn, als Christoph zurückkam, voller Neugier gefragt, was er sich denn unter Bildender Kunst vorzustellen habe.
Wenn mich eine Friseurin normalerweise fragt, was ich so mache, antworte ich meistens: Kunstgeschichte. Das stimmt so halb, da Kunstgeschichte ein Teil meines Studiums war und ist so unsexy, dass die Friseurin außer „oh, interessant“ nicht viel zusagen hat und ich die Augen schließen kann, um mich von einem neuen Aussehen überraschen zu lassen. Als Studierender hatte ich ein einziges Mal den Fehler gemacht und die Kunstakademie erwähnt. Ich fand mich danach umringt von aufgeregten HairdesignerInnen, die mit ihren Haarfarben vier Regenbögen abdeckten und wilde Aktfotografien in Schwarz-Weiß planten: So mega, dass du so kreativ bist, voll cool. Aufregend.
Dabei bin ich leider überhaupt nicht kreativ und oft kommt es mir so vor, als ob Kreativität eher bei den Friseuren beheimatet ist. Ja, Kreativität ist was für Friseure und Kunst ist was anderes. An diesem Tag hatte aber der Arzt vor mir gesessen - und vielleicht lag es an meinem abgefederten Verstand oder an einem neuen, entspanntem Umgang mit meinem Beruf, dass ich die Bildende Kunst erwähnte. Der Arzt sah mich auf jeden Fall irritiert an und wollte wissen, was denn nun an der Bildung Kunst sei. Ob es heutzutage denn eine Kunst sei, Bildung zu vermitteln? Ich erwiderte daraufhin, dass es eher als eine Gattung der Kunstformen zu verstehen sei. So wie es die Literatur, die Musik und die darstellenden Künste gäbe, fasse man die Schönen Künste als Bildende Künste zusammen: Malerei, Bildhauerei, Installation, Fotografie, alles also, was von einer VertreterIn dieser schaffenden Kunst gebildet wird. Die Bildende Kunst kommt also nicht von der Bildung, sondern vom Bilden. Ganz klassisch betrachtet gehört sie ja noch nicht einmal zu den sieben freien Künsten. Die schönen Künste waren einst in einer Zunft zusammengefasst, es war Handwerk, profan und körperlich, etwas, mit dem sich Apollon nie abgegeben hätte. Dann aber kamen Genies, Ohren wurden abgeschnitten und Leben wurden verfilmt, heute laufen Künstlerinnen als Models in Paris und Artstudent style ist ein gut laufender Hashtag.

So kommt es auch, dass Apolloniatota sich eine neue Gang suchen musste. Die Hood hat sich verändert und andere Akteure bestimmen jetzt wo es langgeht.

Wenn man über diese Veränderung nachdenkt, wird das Bildende bildend und so stand Christoph mit seiner Schlinge um den linken Arm auf und holte Rainer Werner Fassbinder „Im Land des Apfelbaums“, Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren, 1962 bis 1963, postum erschienen, München 2005, antiquarisch erworben für 1,75 Euro.

Ein Schauspiel
Abgewendet, liebend
Das Verständnis fehlt, verloren
Mord
Ein Thema, immer wieder
Nur ein Thema
Selber eingefangen
Verloren, Liebe, Sehnsucht
Traum vom Hang nach Oben
Unten irgendwie
Die Liebe, Liebe
Hilfe sucht und findet ihr
In Traume, ewig Heiland, Gott
ein Traum
Den zu erfinden man erschaffen wird
Vorbei
Das Lied des Todes
Abgefallen
Eingebettet in die Ebene
Des Vergänglichen.

Minna steht etwas unschlüssig vor ihrem Fahrrad, seit Christoph ihr geschrieben hat, dass er mit seinem einen Unfall hatte. Sie hält sich, beeinflusst von ihrem Beruf, für einen Unfallhypochonder. Vor Krankheiten fürchtet sie sich erstmal nicht so wahnsinnig, vor Unfällen jedoch umso mehr, da die Möglichkeiten dazu auf der Bühne nun einfach auch unzählige sind und sie klopft schnell drei Mal aus Ermangelung von Holz auf ihren Kopf, da sie, wenn sie darüber nachdenkt, wieviel Glück sie, was das angeht schon hatte, sofort Angst bekommt, mit diesem Gedanken das Unglück herauszufordern.

Ich bin einmal während der Probe gestürzt und mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung in Bochum in die Notaufnahme gebracht worden. Ich schilderte der Krankenschwester den Vorfall, die diesen ungerührt in den Computer tippte und wurde nach einer Weile in einen Behandlungsraum geführt, in den wenig später ein sehr aufgebrachter Arzt stürmte. „Bitte was ist Ihnen passiert?!“ Ich fing gerade erneut meine Schilderung an, als er mich schon unterbrach und sagte: „Sie sind also Schauspielerin und das ist im Spiel passiert? Moment, das muss ich dringend in dem Bericht ändern, hier steht nämlich: ihr Kollege wollte sie erwürgen und dabei sind sie unglücklich gestürzt.“
Während ich ihm anschließend die Geschichte der Prinzessin von Eboli erzählte, dachte ich darüber nach, wie im Theater die Gleichzeitigkeit von Spiel und Echtzeit, von Wahrem und Lüge so eng beieinander liegt, das es oft gar nicht darum geht, zu unterscheiden, wo was anfängt und wo was aufhört, sondern genau um den Punkt, wo es so dicht aufeinanderliegt, das etwas Drittes entsteht: die ganz ehrliche Lüge, die komplett ausgedachte Wahrheit. Darauf achten, dass man möglichst eindrücklich erwürgt wird und sich dann über einen ganz realen Kopfschmerz ärgern. Als Eboli über die nichterwiderte Liebe des Karlos weinen und zeitgleich sich seines eigenen Schmerzes bewusst sein, der damit in dem Moment alles und nichts zu tun hat. Auf der Bühne stehen und darüber nachdenken, was man jetzt am liebsten essen würde. Auf der Bühne stehen und nichts anderes denken, als das in dem Moment Gesagte und ist es dann wichtig, ob in dem Moment die Worte von mir oder Schiller kommen? Wenn ich sie in dem Moment denke, sind es dann nicht genau so meine? Und wenn ich sie denken kann, sprechen, gleichzeitig die Lichtmarkierung treffen und an der verabredeten Stelle auf der Bühen stehen und innerlich traurig/müde/froh wegen was ganz Privatem sein kann, wenn Empfindung und Gestaltung beides gleichsam bewusst stattfindet, wenn das alles gleichzeitig stattfindet, ist man mehr als nur man selbst, nicht mehrere Menschen, sondern eben irgendwie mehr. Das Mehr ist dann der Moment der Kunst, glaube ich.

Der Architekt hat eingehender als die neuen Freunde zugehört. Die anderen haben sich schon bei der vierten Nennung des Wortes Kunst abgewendet und ihre Likes auf Instagram gecheckt. Der Architekt zoomt aus der Szenerie hinaus und legt den Blick frei auf das Gebäude, in dem sich die beiden zu befinden scheinen. Ein Haus, das ebenso verschlungen und gerundet ist wie der Fluss, in dessen Nähe es liegt.

Mit klarer Stimme formuliert Apolloniatota:
„Düsseldorf vor allem ist sich ein solches Haus schuldig, und zwar schon, um seinen Ruhm aufrecht zu erhalten, auf den es stolz war: Beförderer von Kunst und Wissenschaft zu sein, insbesondere aber, um durch seine Bühne Würdiges und Großes zu ermöglichen, dem Theaterdirektor für seine Aufgabe ein lohnendes Feld zu gewähren und ihn in den Stand zu setzen, sich den möglichst größten Zuspruch zu sichern und in Folge dessen den Theaterfreunden durch geringen Preis den Besuch zu erleichtern.“ Diese Worte wurden nicht in unserem Jahrhundert, sondern bereits im Jahr 1864 von dem Düsseldorfer Friedensrichter A. Fahne in seiner Flugschrift „Kurze Begründung eines Theater-Neubaues in Düsseldorf“ geschrieben. Theaterneubauten bedürfen immer besonderer Begründung.
Zitiert aus dem Band: 1832-1970, Eine Dokumentation über das Düsseldorfer Schauspielhaus. Erworben im Frühjahr 2019 für 1€ in einem Charity Shop

Ottilia the Directress erinnert an den Januar 1957 – „Rundschreiben der Düsseldorfer Volksbühne“ – „Die Volksbühne fordert ein zweites Schauspielhaus. Der Kulturausschuss der Stadt Düsseldorf hatte uns zwar mehr Plätze und mehr Vorstellungen versprochen, aber an solche Versprechen scheinen sich die ausführenden Stellen in Düsseldorf nicht gebunden zu fühlen. Man sage nicht, die Theater in Düsseldorf seien infolge ihrer privatrechtlichen Struktur souverän in ihrem Tun und Lassen. Auch beim Theater liegt, wenn ein echter Wille vorhanden ist, die letzte Entscheidung beim Hauptgeldgeber, und das ist die Stadt Düsseldorf.“

Golden Pigeon gurrt. Apolloniatota blickt in die Runde. Sie kommt durcheinander. In welchem Jahr wurde jetzt über den Theaterbau diskutiert? Wiederholt sich die Zeit? Oder: gibt es sie nicht?

Auf dem Papier befinden wir uns nicht im Jahre 2019, sondern im Rausch des Wirtschaftswunders, der Nierentische, der Patriarchalen Strukturen. Düsseldorf ist die blühende Mode- und Kunststadt der jungen Bundesrepublik. Die Kunsthalle und der Kunstverein sind nach dem Krieg behelfsmäßig in den Ruinen ihres alten Hauses untergekommen und warten auf einen Neubau, der 1967, unter lautstarken Protesten von gleich fünf Akademieprofessoren und als Kunstbunker verspottet, eingeweiht wird. Die Kunstsammlung NRW ist im Schloss Jägerhof, dem heutigen Sitz des Goethemuseums, untergebracht und es zeichnet sich ab, dass auch für dieses Haus ein Neubau benötigt wird, da die Wände voll sind.
Minna:
Kippt der Abend in eine Lehrstunde über lokale Gebäude? Sylvia ist längst ausgestiegen.

Sie denkt ans Theater und träumt von einem roten Teppich. Sylvia lebt das entspannte Leben einer Nudistin und hat sich schon wieder der lästigen Kleider entledigt. Sie hat die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt und es sich in einer Hand bequem gemacht.
Sie denkt darüber nach, dass nur das hinterfragt wird, was wir sowieso um uns herum sehen. Sie blickt rüber zu Der Architekt und lächelt. Architektur ist immer eine Manifestation von Macht – und egal ob wir über die Ziele der hehren Künste sprechen oder über die Bildung des Schönen versus des Darstellenden, Künstler müssen hinter die Kulissen schauen. Wir sind keine Wissenschaftler und haben Freiheiten, die diese nicht haben. Wir müssen sie nur wahrnehmen.

Ottilia, the Directress möchte auf die Gebäude zurückkommen. Sie erinnert daran, dass 2017 im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen die Ausstellung „Asymmetrische Architexturen“ eröffnete. In dieser Ausstellung wurde von einer recht üppig besetzten Liste von KünstlerInnen die Geschichte der Düsseldorfer Nachkriegsarchitektur und im Besonderen die des eigenen Hauses, des erst verspotteten und dann geretteten Kunstbunkers, unter die Lupe genommen. Die engen Beziehungen der Düsseldorfer Nachkriegsarchitekten zu Albert Speer kamen auf den Tisch genauso wie Lochkarten, Jahresgaben und Karyatiden.
Christoph Westermeier verfasste mit Rita McBride für diese Ausstellung die Arbeit Jahrskript, ausgelegt zum Mitnehmen und aufgeführt am 05. September um 19 Uhr 30. Minna Wündrich stand währenddessen vermutlich in irgendeinem Stück auf der Bühne, dessen Text sie jetzt nicht mehr auswenig weiß. Sylvia war damals schon entkleidet und genoss ihre Stunden in Conceptualana.

Conceptualana. Ein ferner Planet, in dem Frauen und Männer, Tiere und Pflanzen glücklich zusammenleben. Frauen leiten alle großen Organisationen des Landes, während die Männer repräsentative Rollen übernehmen und sich um die musische Rahmengestaltung kümmern.

Die LGBTQ+ Gemeinde ist sehr groß und so wird hinter vorgehaltener Hand von einer Gay Mafia gemunkelt. Die Bewohner Conceptualanas haben die unterschiedlichsten Biographien und Hintergründe. Sie sprechen in unterschiedlichen Dialekten und Kommunizieren mit Leuchtsignalen an den Stellen, an denen Wörter nicht mehr helfen. Ottilia, the Directress und ihr Anhängsel golden Pigeon kommen aus einem fernen Land. Das Erscheinen von Ottilia, the Directress ruft bei allen Lebewesen einen wohligen Schauer hervor, fremde Kulturen und ungeahnte Möglichkeiten schwingen in ihrem Auftritt mit. Golden Pigeon, eine Taube, hat sich vor Jahren auf ihren Schultern niedergelassen.
Die Gebäude in der Hauptstadt Conceptualanas sind hauptsächlich Ruinen. Heute ist der Schutt zur Seite geschoben, das obere Geschoss eines wichtigen Kulturankerbaus ist abgetragen. Der Haupteingang ist zugemauert und man muss das Gebäude von der Seite betreten. Das Licht fällt gedämpft von der linken Seite durch eine provisorische Scheibe herein. Papiere werden umgeblättert, Aktenordner auf- und zugeklappt, leise Schritte sind in einem stetigen Hin und Her zu hören. In regelmäßigen Abständen ist das Surren eines Scanners zu hören. Ein Gong ertönt. Die Geräusche verstummen, Konzentration liegt in der Luft. Ottilia, the Directress löst sich aus der Gruppe und spricht. Golden Pigeon auf der Schulter gurrt und wackelt mit dem Kopf.

Nachdem das Düsseldorfer Schauspielhaus im Krieg durch Bomben zerstört worden war, mussten neue Räume für das Theater gefunden werden. Denn über die Bühne suchte und fand das freie Wort, das zwölf Jahre verbannt war, wieder den Weg zurück nach Deutschland. Wo immer sich auch ein paar Schauspieler, ein Regisseur, Bühnenarbeiter zusammenfanden, dort wurde gespielt. Und das Publikum kam und empfand das Glück der großen inneren Befreiung, eines neuen Aufbruchs. Da sich die Unterbringung des Düsseldorfer Schauspiels im Saal der Provinzial-Feuerversicherung und in der Aula der Luisenschule bald für beide Partner, die Vermieter und Benutzer, als nicht mehr zumutbar erwies, beschloss der Hauptausschuss und Kulturausschuss der Stadt Düsseldorf im Jahre 1950 die Wiederinstandsetzung des Theaters an der Jahnstraße und bewilligte 800 000 DM.

Sylvia erinnert daran, dass sieben Jahre später, am 30. April 1957 die Lokalpresse über Oberbürgermeister G. schrieb „Oberbürgermeister G. erklärte, dass das Düsseldorfer Schauspielhaus hinsichtlich der Platzkapazität nicht genüge und der Bau eines entsprechenden Schauspielhauses bereits gewährleistet sei, wenn es gelänge, dafür die Mittel auf dem Kapitalmarkt zu gewinnen.“

Der Architekt zitiert einen Tweet vom 22. November 1958: „Jugend wünscht Musentempel“

Nashorn Eugène findet gleich die Antwort vom 17. Dezember 1958: „Wir wollen keine Viehhalle, sondern ein Schauspielhaus mit soundso viel Plätzen und soundso viel Nebenräumen.“

Der Architekt ist stolz, denn so wurde ein neues Schauspielhaus geplant, Beträge wurden bewilligt und Verhandlungen geführt. Ein Wettbewerb wurde ausgerufen und an ihm kam niemand vorbei.

Sylvia lacht. Sie erinnert sich, wie ihr Lieblingsentwurf plötzlich gedreht wurde und einfach andersherum gebaut. Anders herum ist der Ausdruck, mit dem ihre Oma stets mit einem leicht irritiert-mitfühlenden Blick Homosexuelle beschreibt. Damals war sie irgendwie abgelenkt gewesen und hatte daher die Sache nicht weiterverfolgt. Jetzt schaut sie auf das Zitat:
„Der Vorentwurf übernahm den Wettbewerbsentwurf auf Anregung von Prof. Tamms im Wesentlichen als spiegelverkehrt, da sonst Bühneneingang und Kulissentransport vor dem Hauptzugang des Thyssenhauses gelegen hätten. Zugleich regte Prof. Tamms an, das neue Gebäude über die Goltsteinstraße hinweg bis an den Rand des Hofgartens zu rücken. Auf diese Weise entstand zwischen dem Foyer des Schauspielhauses und dem Grün der Parkanlage eine sehr enge Verbindung, und anderseits wurde für die Anlage einer unterirdischen Tiefgarage ein größerer Platz frei.“
Sie lacht wieder. Das Schauspielhaus ist queer und man wollte mehr Platz für einen Darkroom.

Ottilia, the Directress, lässt sich von Sylvias Begeisterung anstecken, will jetzt mehr erfahren und klickt auf einen Link. Ein neues Fenster öffnet sich, doch bevor sie das eigentliche Video sehen können, erscheint zuerst eine kurze Werbung für eine Mitgliederversammlung. Die Mitglieder klatschen frenetisch, neigen die Köpfe zueinander und lächeln. Voll Ergriffenheit fassen sich einige an den Händen. Es wird verkündet:

„Wieder konnten wir für die jährliche Verlosung hervorragende Kunstwerke erwerben und damit die bildende und darstellende Kunst fördern. Auch SIE nehmen mit Ihrer Mitgliedsnummer an der jährlichen Verlosung teil und wir hoffen, dass SIE diesmal zu denen gehören werden, denen der Waisenknabe im Musentempel einen Gewinn aus der Urne zieht.“
Sylvia ist begeistert. Sie ist Feuer und Flamme und voll dabei. Sie ruft und schreit: Waisenknabe!!! Waisenknabe!!! Waisenknabe!!! Waisenknabe!!!
Ein elfjähriger Weisenknabe ist sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe anscheinend wohl bewusst. Mit gesammelter Miene rührt er abgewendeten Gesichts in dem gelben Bast-Glückskorb herum und zieht mit weiter Geste die Nummernzettelchen hervor, jedes Zoll ein würdiger Vertreter Fortunas! Er löst seine Aufgabe sehr zur Zufriedenheit aller Anwesenden im Musentempel. Bei einem Interview erklärt er, sich vor Aufregung auf die Lippe beißend, wie aufregend es sei, für die Vereinigung der Künste, explizit der darstellenden und der bildenden Künste in der schönen Stadt Düsseldorf am Rhein aktiv zu werden.
Sylvia wended ihren repräsentativen Körper in einer Hand und singt:

Dibble da da zing la reh me do, fa la reh me do, dingngng sing, dibble da da sing la reh me do, fa, ah, fa, ah dome do, ohohoah

Die Werbung zieht sich in die Länge, die Mitgliederversammlung geht in eine Karnevalssitzung über, doch in 3, 2, 1, Sekunden skippt Sylvia endlich die Werbung und schaut nun auf das Video aus dem Jahr 2016: „Es ist so, dass viele sagen, das Schauspielhaus ist im Central auch gut untergebracht.“ redet ein erneuter Oberbürgermeister G. in eine Kamera hinein und ist sich der Ironie nicht bewusst, dass er, während er das sagt, vor dem Schauspielhaus und nicht vor dem Central steht.
Ottilia the Directress seufzt in einer Mischung aus wohliger Verachtung und Sarkasmus, während vor ihrem geistigen Auge glitzernde Musicaldarsteller*innen Oberbürgermeister G. umtanzen und mit gespreizten Jazzhands von Investoren und Kongressen singen. Ein Investorical. Chinesische Untertitel. Minna Wündrich als sterbende Kultur, ein anrührender Monolog, das Bildungsbürgertum liegt schluchzend den umstehenden Bauarbeitern in den Armen, danach erinnert sich plötzlich keiner an gar nichts mehr und alle wollen dringend einkaufen gehen.
Kurz will ihr Oberbürgermeister G. leid tun, er ist ja auch nur ein Mensch, den man nur aus seinem sozialen Umfeld heraus betrachten kann, die Umgebung beeinflußt den Menschen, wie aber nun auch der Raum die Kunst beeinflußt. Im übertragenen Sinne, der Raum, der der Kunst zugestanden wird. Aber auch der tatsächliche Ort, an dem Kunst stattfindet. Das der nichts mit der Kunst zu tun habe, die Kunst nichts mit dem Ort, ist ja nun absurd, regt sich Ottilia the Directress wieder aus ihrem kurzen Moment des Mitgefühls auf. Man kann überall Kunst machen, natürlich. Gerne würde sie site specific Arbeiten im Rathaus konzipieren. Aber das ist alles anders, als ein Ort, der dazu gemacht ist, alle Orte zu ermöglichen. Eine Bühne ist ein Raum, der alle Räume ist, ein Zuschauerraum ist ein Raum, wo jeder alle sein kann.
Plötzlich hört Ottilia the Directress eine Stimme. Leise, aber die Stimme sagt: „Ich habe mich immer schon in Räumen am wohlsten gefühlt, die dazu gemacht sind, dass sich in ihnen etwas ausgedacht wird, das den Raum verändert. Bühnen, Probebühnen, Ateliers.“ Was ist das? Sie klickt umher- hat sie noch einen anderen Tab, ein anderes Fenster offen? Nein, es ist ein Gedanke. Den sie hören kann. Sind Gedanken mittlerweile auch zugängiges Archivmaterial? Der Gedanke, der durch den Garderobengang des Schauspielhauses weht, setzt sich jetzt verpixelt vor ihren Augen zu einem Menschen zusammen. Es ist Minna Wündrich, sie geht durch das neu sanierte wieder neu eröffnete damals neu gebaute Theater, das nun auch für sie ganz neu ist. Sie kommt auf der Seitenbühne an und blinzelt etwas ins Gegenlicht, die Vorstellung läuft, sie sieht zum einen ihre KollegInnen beim Spielen, zum anderen einen Teil des Publikums, das ihnen zusieht, aber nicht sieht, wie sie sieht, wie sie sehen.

Konzentration liegt in der Luft. Sogar golden Pigeon hält den Kopf still. Ottilia, the Directress erinnert an den Hashtag für den heutigen Abend:

Diepublika oder Traum vom Hang nach Oben unten irgendwie.
Das Publikum. Neben Substantiven wie „Ferien“ oder „Leute“, die nur im Plural vorkommen, gibt es im Deutschen auch solche ohne Pluralform, „Ruhe“ zum Beispiel, oder „Überfluss“. Auch das „Publikum“ scheint es in der Mehrzahl nicht zu geben, es scheint sich um ein Singularetantum zu handeln, also um ein Wort, das nur im Singular vorkommt. Aber ist denn die Zuschauerfahrung immer eine singuläre? Oder doch auch eine kollektive? Und wenn man sich eine Kunst anschaut und danach eine andere Kunst, ist man dann zwei mal Publikum oder bleibt man immer ein Publikum? Ist man einmal Kunstpublikum und einmal Theaterpublikum? Warum gibt es mehrere Künste, aber das eine Publikum soll in der Einzahl bleiben? Und wenn es Kunstpublikum und Theaterpublikum beides gibt, was ist das Publikum dann, wenn es sich Kunst und Theater gleichzeitig anschaut? Um die verschiedenen Künste pluralistisch wahrnehmen zu können, findet sich im Online-Wörterbuch von Duden unter dem Begriff „Publikum“ eine Deklinationstabelle, die den Plural „Publika“ nahelegt.
Minna hat die Vorstellung inzwischen zu Ende gespielt, die Bühne sieht aus wie ein abgetobter Spielplatz und wieder kann man ihre Gedanken hören, wie sie mit ihr durch die Gänge des Queertheatres gehen: „Eigentlich müsste man fast die Fassade des Schauspielhauses genau so lassen, wie sie jetzt ist: aufgerissen, von Gerüsten umgeben, ein Teil schon verkleidet, trotzdem noch nur halb fertig, auffällig das Stadtbild störend und gleichsam dazugehörend. Das wäre doch eigentlich die theatral passendste Architektur.“ Sie kommt in ihrer Garderobe an. In ihrer Garderobe, dem theoretisch einzigen privaten Ort einer öffentlichen Person am Theater. „Zum Glück sind wir nicht mehr im Central.“, denkt sie. Die dort immer wechselnden Garderoben ohne Fenster haben sie fertig gemacht. Räume machen was mit einem. Sie guckt aus dem Fenster, ja endlich jetzt dem Fenster, auf die Bürowelt Düsseldorfs.

Der Architekt kennt die Bürowelten. Er hat viel Zeit darin verbracht und ist gerade ganz glücklich, dass er eine Auswahl seines Schaffens in einem Coffeetable Book zusammengefasst hat. Das will er gerade Golden Pigeon zur Ansicht anbieten. Golden Pigeon jedoch ist im Abflug, um sich mit seinen Taubenfreunden vor dem Central zu treffen. Während sie gemeinsam vor sich hinpicken, kommt ihnen vom Worringer Platz aus Archivmaterial entgegen.

Es ist Prof. Friedrich Tamms, ehemaliger Mitarbeiter des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt und ehemaliger Leiter des Stadtplanungsamtes Düsseldorf, Verursacher des Düsseldorfer Architektenstreits und prägender Kopf der Perle am Rhein, der weltfraulichen Landeshauptstadt Düsseldorf, er baute und philosophierte. Er baute eine autogerechte Stadt, einst als faschistische Stadt geplant, nun als demokratische realisiert, schlug Brücken über den Rhein und sinnierte:
„Ein Schauspielhaus bauen, das ist so aufregend, so anstrengend, so niederdrückend, und so beglückend wie ein Stück schreiben, das in eben diesem Haus aufgeführt werden soll. Es gibt während der Entwurfsarbeit, Höhen und Niederungen. Sie müssen durchwandert werden, zum Glück niemals allein. Immer in einer fortwährenden Diskussion mit anderen. Plötzlich entstehen Explosionen, Angriffe, Beschuldigungen, Verdächtigungen. Erklärungen werden abgegeben, Kompromisse geschlossen. Kampf bis zur Erschöpfung, gegeneinander und miteinander! Aber stets um die Sache; und das lohnt sich.
Eines Tages ist es soweit. Bauleute rücken an. Eine festliche Menge ist versammelt. Das Vorspiel beginnt. Der erste Spartenstich! Sieht aus wie Wallensteins Lager. Man ist begeistert. Lobt groß und klein, die Architekten und die Bauleiter, die Statiker und die Bühnentechniker, die Firmen und ihre Fachleute. Dann geht man nach Hause, überlässt die Stätte des Wirkens dem Akteur: Er wird’s schon machen!
Gut, gut, der ist nun mit sich und dem Problem allein. Und dieses ist nicht etwa ein technisches - das natürlich auch, sehr sogar! – sondern vor allem ein menschliches. Aber dann tritt er vor den Vorhang, schildert das Los des Künstlers, der Kummer und Leid hinter einer Maske verbergen muss, die das Stück ihm vorschreiben. Er weiß sich zwar schuldig, aber wer auf dieser Welt wüsste nicht, wie man schuldlos schuldig werden kann?
Das Spiel geht weiter. Noch einmal wird geschrien und getobt. Alle merken, dass das Ende naht. Ihre Nervosität steigt. Die ausgleichenden Kräfte spannen noch einmal bis zum Zerreißen. Die Grenzen des Tragbaren werden erreicht. Aber zum Glück nicht überschritten. Immer siegt im letzten Augenblick die Einsicht, dass das Werk mehr ist als der Einzelne, und dass man sich nach der Fertigstellung noch lange und intensiv genug beschimpfen kann – wer dann noch Lust dazu haben wird.
So wird denn das neue Haus tatsächlich fertig.
Der Chef zieht ein, mit allen seinen Truppen, ergreift Besitz vom Großen und Kleinen Haus, von Prospekten und Maschinen, von Sonne und Mond, von Wasser und Feuer. Auch die Felsenwände, die nun in weit prächtiger Art und Größe, als es im alten Haus möglich war, zur Verfügung stehen, sind in seine Hände gelegt. Alles ruht in seinen Händen. Je mehr sich das Haus mit Künstlern und Technikern vollsaugt, um so mehr ziehen sich Architekten und Handwerker daraus zurück. Sie merken, dass sie von Tag zu Tag überflüssiger werden, und dass ihre Ideen, die sie ein Jahrzehnt gegen alle Stürme der Umwelt und der Besserwisser hochgehalten haben, bei denen angekommen sind, um die sie sich stets bemüht haben: Bei den Dichtern, den Regisseuren, den Schauspielern, den Bühnenbildnern, den Technikern und schließlich bei allen jenen Menschen, die sich auf der Bühne (die die Welt bedeutet) wiedererkennen wollen und die Jenes erleben möchten, das was unwirklich ist, das aber Träume und Geistesströme auszulösen vermag, die uns Menschen in glücken Stunden aus der Mühsal dieser Erde herauszutragen vermögen. –
Dies ist die Geschichte von dem Bau des Neuen Schauspielhauses zu Düsseldorf am Rhein.

Golden Pigeon hat genug vom Central und flattert wieder zu den Anderen zurück. Der Architekt ist vertieft in sein Coffeetable Book. Ottilia, the Directress blickt herüber zu Apolloniatota, Apolloniatota ist allerdings vollends in virtuelle Welten abgetaucht. Sylvia sinniert darüber, schwimmen zu gehen, Nashorn Eugène macht ein Selfie von sich.

Das ist nicht das einzige Foto. Während all dies gerade passiert, werden Fotografien hier im Raum gemacht. Es werden Fotografien draußen auf dem Platz vor dem Theater gemacht und in den letzten zwei Sekunden sind wieder abertausende von Fotografien gemacht worden. Während wir versuchen, das zu verstehen, werden jetzt und jetzt und jetzt und jetzt und jetzt abertausende von Fotos gemacht. Es sind so viele, dass es schon wieder egal ist und in der eigenen Masse implodiert.
Sylvia macht jetzt auch ein paar Selfies von sich, sie legt einen Filter auf Instagram darüber, so dass sie zeitlos hübsch aussieht, aber schon an Herbst 2019 erinnert. In diesem Herbst macht auch Minna Wündrich gerade eine Selfie mit Christoph Westermeier. Er zeigt die Narbe, die sein Fahrradunfall auf seiner Schulter hinterlassen hat.
Als Studierender der freien Kunst mit dem Schwerpunkt Fotografie hat die stetig wachsende Bilderflut, diese schiere Masse, Christoph Angst gemacht. Es führte dazu, dass er über Bilder nachdachte und irgendwann überhaupt keine eigenen Fotos mehr machte. Es schien, als ob die Masse der Bilder sein künstlerisches Gemüt erdrückte. Er wandte sich eher bestehender Bilder zu und alte Bücher, Publikationen, Drucke und Alben erfüllten ihn. Er dachte über Fotografie nach und gab Bestehendem ein neues Leben. Ottilia, the Directress, holt ein altmodisches Diktiergerät mit Kassette aus der Tasche, drückt auf ON und hält es Christoph ins Gesicht.

Irgendwann merkte ich, dass mir etwas fehlt. Ich kam mir vor wie ein Jäger, der auf der Suche nach einem speziellen, unbekannten Buch einen Tunnelblick entwickelt und nur noch ein Produkt sieht. Es fing an, mich zu langweilen und das, obwohl ich einen guten Riecher entwickelte, wahre Goldstücke aus Müllbergen herauspickte und eine respektable Sammlung zusammengetragen habe.
Vor sieben Jahren holte ich meine analoge Spiegelreflex heraus, legte einen Film ein und fotografierte mein Atelier. Seither habe ich mir mit verschiedenen Kameras mein eigenes Bilderhaus aufgebaut. Darin sind, sortiert nach Jahren, verschiedene Themen aufgelistet, die sich in Unterkapitel und Extrabezeichnungen gliedern. Es gibt auch den Ordner Ab-Foto, das ist die Sammlung von bestehenden Fotografien, aber dieser Ordner ist im Vergleich zu den anderen klein. In diesem Jahr, 2019, befanden sich am 24. Oktober, 31586 Fotografien in dem Haus für das aktuelle Jahr. Heute sind es mehr, morgen wieder mehr etc.
Diese Anzahl macht mir keine Angst mehr. Sie hat etwas Beruhigendes. Ich verstehe sie als Humus, auf dem meine künstlerische Identität wächst. Ich bediene mich dieser Fotos, um Geschichten zu erzählen. Wir leben in einer Gesellschaft der Bilderflut, der Wissensflut, der Informationsflut. Wir können uns diesen Fluten nicht entziehen, aber wir können sie reflektiert einsetzten.

Ottilia, the Directress nickt mit Verständnis. Sie weiß, dass die Texte, die sie und ihre Freunde sprechen, aus alten Publikationen stammen. Es ist eine Textcollage, die aus bestehenden Texten und Feuilletons zusammengesetzt ist und zusammengehalten wird von selbstverfassten Texten der Schauspielerin Wündrich und des Fotografen Westermeier.
Wir sind ein immerwährendes Archiv von Geschichten und Geschichte. Doch für die Künste gibt es keine vertikale Auffassung davon. Für Apolloniatota und ihre Gang gibt es kein staubiges Gestern, sondern nur ein horizontales glamouröses JETZT. Die Gang bedient sich Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem und baut daraus ihre eigene Hood.
Wir können nicht erwarten, dass alles sofort verstanden wird, aber wir brechen die vertikale Hierarchie auf und geben den Dingen eine neue Realität.
Das, was authentisch ist, ist immer auch eine Erfindung.

So wie die Schauspielerin Wündrich jeden Abend auf der Bühne einen Text, der im Absolutismus entstand, mit Inbrunst in die Gegenwart bringt, überträgt der Fotograf Westermeier Überbleibsel der Kulturgeschichte ins Jetzt. Das ist keine klassische Fotografenarbeit, aber Westermeier hat einen fotografischen Blick, denkt in Fotografien und nimmt ein Foto immer als Ausgangspunkt seiner Projekte.

Sylvia versieht derweil ihr Selfie mit lustigen Emojis und bedient sich dem Aby Warburg Bildatlas, um passende Hashtags zu finden. Dann läd sie es hoch in ihre Instagram Stories, dieses kuratierte Jetzt, in dem die Geschichten zu Bildern werden oder die Bilder zu Geschichten.

Nashorn Eugène grunzt und bestätigt schnell noch seine Teilnahme an dem ihm vorgeschlagenen Event „performing/arts Ausgabe 1“. Dann schlägt er vor, zur Feier der Rückkehr des Theaters ins Schauspielhaus, einfach Glückwünsche zur Eröffnung des Schauspielhauses vor 50 Jahren per copy/paste auf die Facebookseite des Düsseldorfer Schauspielhauses zu posten.
„Lieber Intendant S., ich wünsche Ihnen und Ihren Freunden Glück. Ich bin überzeugt, dass sie ebenso gute Stücke wie im alten Theater herausbringen und ebenso wunderbare Inszenierungen machen werden. Seit mehr als zehn Jahren habe ich immer wieder die große Freude, regelmäßig meine Stücke bei Ihnen inszeniert zu sehen. Ich benutze diese Gelegenheit, zugleich meinen Dank dem Düsseldorfer Publikum auszusprechen, das für meine Stücke ein so großzügiges Verständnis gehabt hat.“

Ottilia, the Directress nickt, sie erinnert sich: „Ionesco hatte sein erstes abendfüllendes Stück geschrieben, „Die Nashörner“, und ehe in Paris ein Theaterdirektor den skurrilen Einwanderer ernst nahm, war die Uraufführung des Werkes am Düsseldorfer Schauspielhaus festgesetzt. Die Premiere am 31. Oktober 1959 in der Regie von Intendant S. war ein Ereignis. Sie zitiert: „Der verlachte, ausgepfiffene, auf die leichte Schulter genommene Außenseiter hat es geschafft, ein dramatisches Gleichnis zu formen, das uns mitten ins Herz trifft und das die tollkühnen neuen dramatischen Ausdrucksformen legalisiert ... Die Nashörner mögen in fünf Jahren verbraucht, überholt sein. Jetzt aber, und darauf kommt es an, repräsentieren sie heilkräftige Wahrheit und legitime Form.“

Nashorn Eugène nickt zufrieden, erstellt das Profil von Friedrich Dürrenmatt und postet:
„Ein Theater-Neubau ist eine riskante Sache. Man baut etwas, das längst erfunden wurde: ein Theater. Man stellt einen Rahmen für ein Bild her, das noch zu bemalen ist. Jede neue Spielfläche, mag sie technisch noch so raffiniert ausgestattet sein, ist wie jede leere Leinwand, eine Chance, Neues entstehen zu lassen. Sie fordert die Theaterschaffenden heraus, die alte und die moderne Literatur wieder kritisch zu durchdenken und mit ihr unsere Zeit auf die Bühne zu stellen. Ein Theater-Neubau ist kein Ereignis, sondern eine Verpflichtung zu einem Ereignis, das nur durch tägliche harte Arbeit erzielt werden kann: Theater. Ich wünsche dem neuen Schauspielhaus in Düsseldorf eine neue Bühne für ein neues Theater.“

Heinrich Böll klickt auf Gefällt mir und kommentiert:
Lieber Intendant S. Ich weiß nicht recht, ob ich jemanden, der ein neues und teures Haus bezieht, beglückwünschen oder bemitleiden soll. Wählen Sie bitte selbst zwischen beiden. An Ihrer Stelle würde ich Mitleid vorziehen, so ein Bauherr muss viel schlucken, auch Erde und Ehre, und ich frage mich, was leichter hinuntergeht. Vor Jahren schrieb ich einmal mehr oder weniger privat: „wir (irgendein mythisches Weibsbild und ich waren gemeint) küssen einander den Schnee von den Lippen und erklären einander für rein.“ Sie sehen, alles rächt sich. An mir. Hoffentlich nicht an Ihnen.“

Apolloniatota blickt in die Runde, hohe Konzentration, die Frisur sitzt. Ottilia, the Directress und Golden Pigeon haben die Aufforderung, sich zu küssen, angenommen. Sylvia hat während des Textes von Heinrich Böll den Entschluss gefasst, Jura zu studieren. Nashorn Eugène macht sich auf, seine Vermittlungsarbeit in den Schulen des Landes wieder aufzunehmen. Der Architekt hat den Bleistift niedergelegt und möchte in Zukunft mehr repräsentative Aufgaben übernehmen.
Schnell bucht Apolloniatota auf myhammer.de noch alle Handwerker, die sie kriegen kann. Die Künste haben sie nötig, sonst wird das alles nie was. Dann schlägt sie die Beine übereinander, blickt in den Spiegel, richtet sich und atmet erleichtert aus. Sie ist zufrieden. Die lange Suche und das nervige Tippen hat sich doch gelohnt. Auf den Wolken im Unterhaus von Conceptualana hat sich Gutes zusammengefunden. Neues. Noch einmal zoomt sie an ihre beiden neuen Freunde heran, sie sitzen auf einer Bühne, sie hören sich etwas an. Ein Fassbinder-Gedicht.

Ein Schauspiel
abgewendet, liebend
aber das Verständnis fehlt
Mord.
Ein Thema, doch immer wieder
Nur ein Thema.
Selber eingefangen, Verloren
Liebe, Sehnsucht
Traum vom Hang nach Oben Unten irgendwie
Die Liebe, Liebe
Hilfe sucht und findet ihr
In Trauer ewig Heiland, Gott – ein Traum
Den zu erfinden man erschaffen wird.
Vorbei
Das Lied des Todes
abgefallen eingebettet
in die Ebene des Unvergänglichen.

Minna Wündrich und Christoph Westermeier seufzen zufrieden.
Christoph: Ich hab Lust auf ein Bier.
Minna: Ich auch.
Christoph: Sie freuen sich über die anwesende Publika.
Minna: Jetzt kann unser Abend beginnen.
Christoph: Er ist schon gewesen.
Minna: In Conceptualana sitzt Apolloniatota auf ihrer Wolke und lacht.


DIEPUBLIKA oder Traum vom Hang nach Oben unten irgendwie
Minna Wündrich und Christoph Westermeier,
eine Produktion in der Reihe performing/arts für das Unterhaus, Düsseldorfer Schauspielhaus 2019