Man nimmt 80 Bücher und macht ein 81. daraus,
und wenn man Varianten zu Gedanken
anderer entdeckt, dann heißt das Ideen haben.
2013


Ich ging durch den Central Park hinter dem Museum bis zum Shakespeare Denkmal. Ich ging weiter, den See entlang und kam zu einem Denkmal Schillers, das sich ebenso fremd ausnahm. Vielleicht hatte ein Auslandsdeutscher es vor Jahrzehnten gestiftet. Im Augenblick hatte ein Erotiker es verschönt. Mit roter Farbe war ein üppiger gebückter Frauenhintern darauf gezeichnet, der von einem Mann mit einer Brille von hinten vergewaltigt wurde. Es war nicht einmal eine ungeschickte Zeichnung aber sie passte schlecht zum Verfasser der „Jungfrau von Orleans“.

Uns ist die Historienmalerei sehr fremd geworden. Das liegt in der Natur der Sache, sprich ihrer Gebundenheit an geschichtliche oder literarische Stoffe. „Eleonora saugt Gift aus der Wunde ihres Mannes, des Königs Edward I,“; „Coriolanus wird von seiner Mutter Veturia und seiner Frau Volumnia angefleht, auf den Krieg gegen sein Volk zu verzichten“; „Vergil liest aus seiner Aeneis Augustus und Octavia, die in Ohnmacht fällt, vor“; wer die Geschichten dazu nicht kennt, sieht auf diesen Bildern nur eine Anzahl von Figuren in verschiedenen Stellungen, und mit verschiednen Gemütsbewegungen auf einer Fläche vereinigt.

Der Banause sieht in den Führer, der Kluge lächelt über den Banausen, er hat schon vorher im Führer nachgesehen, er sieht immer vorher im Führer nach. Die Doktorin, summa cum laude natürlich, sagt sehr viel Gutes, es klingt wie die Einleitungen von einem Dutzend grundgescheiter Bücher – anderer. Es könnte scheinen, als ob der Dumme der Klügste wäre.

So schnell wie die Gegenwart ändert sich die Vergangenheit. Sie fließt, wie alles fließt, und zurückblicken auf dem Strome der Zeit sehen wir andere Wasser als über die wir fuhren. Die Perspektive, die uns die Dinge der Nähe mit Farben und Formen in vielfacher Abstufung zeigt und die in verwirrender Genauigkeit jeden Sonnen- und Schattenfleck, Grashalm von Grashalm unterscheiden lässt, sie schließt in der Ferne alles groß vor unseren Blicken zusammen. Aber auch dort, wo wir nicht mehr sind, hat die Landschaft noch die leuchtenden Farben, ihre Tages- und Jahreszeiten, ihre Saat und Ernte. Die Vergangenheit ist nicht tot.

Ich blieb an diesem Abend zu Hause. Als es dunkel wurde, machte ich kein Licht an. Ich lag auf dem Bett und schaute die Bronze an, die am Fenster stand. Ich hatte in der Zeit im Museum von Brüssel eines gelernt: dass die Dinge erst sprechen, wenn man sie lange anschaut, und dass die, die sofort sprechen, nie die besten sind.

In einer müßigen Stunde ist einem Menschen dies eingefallen: da das Licht, das die Erde ausschickt, bis zu den verschiedenen Sternen verschieden lange reist, so würde man von jedem Gestirn, lebten dort nur Leute und hätten sie genügend starke Fernrohre, eine andere Zeit auf der Erde zu sehen bekommen: so käme etwa zu dem einen Stern Licht, das die antike schauen ließe, von einem anderen Stern aber könnte man heute den Dreißigjährigen Krieg beobachten, und so fort. Dieser Einfall wurde, wie ich mich erinnere, in das Sittliche gewendet; aber er taugt auch im Geschichtlichen als Gleichnis. Denn ist es nicht so, dass wir, von der Vergangenheit der Erde immer anders entfernt, immer zu einem anderen Gestirn hin Licht empfangen, die wir hinausspähen in das Dunkel, Licht, das uns nur eine Zeit schaubar macht, nicht alle Zeiten? –

Von den Denkmälern der Vergangenheit ist vieles verlorengegangen, vieles ist verschüttet und wartet im Dunkel. Verschüttet ist aber nicht nur, was in der Erde ruht; auch manches, das im offenen Licht steht oder zwischen den Mauern der Museen, ist verschüttet, wenn wir es nicht mehr zu unserem Leben brauchen, es nicht mehr lieben. Polyklet aber langweilt mich – diesen Satz fand ich in einem jüngst erschienen Buch über die Kultur der Antike, und falls dieser Satz für eine neue Gelehrtengeneration spricht, sind dann die Werke der antiken Blüte nicht in Gefahr, verschüttet zu werden? Langweilen uns alle denn nicht die römischen Marmorkopien nach griechischen Meisterwerken, diese rohen Inhaltsangaben, die von Winckelmann, Lessing und Goethe so bewundert wurden, ja auch von unseren Vätern noch, und die uns von den Originalen so weit entfernt scheinen wie ein Öldruck von einem Tizian-Gemälde? Auch die meisten Werke der Hochrenaissance drohen jetzt in das Dunkel zu versinken: man muss nur hören, was junge Maler vor Raffael oder Guido Reni sagen, und doch galten diese Meister vor fünfzig Jahren als die größten aller Zeiten. Wenn Raffael auch noch nicht verschüttet ist, Staub hat sich über seine monumentalen Fresken gebreitet. – Doch so wie Werke in die Finsternis verschwinden, so steigen andere aus der Verborgenheit hervor. Ausgrabungen schaffen in Griechenland, Ägypten, in Babylonien, in Mexiko Kunstwerke an das Tageslicht: doch ertragreicher noch sind die geistigen Ausgrabungen, die uns Werke nahebringen, die schon generationenlang – wirkungslos – in den Galerien standen. So wurden in den letzten Jahrzehnten die griechischen Originalwerke entdeckt, die römische Porträtkunst, die deutsch-gotische Plastik, die Meister des Barock – vor allem Rembrand. Was galt Rembrandt vor zwei Generationen? Burckhardt, 1877, glaubte Rembrandts Schwächen nicht verschweigen zu dürfen, und er sagte: Höchstwahrscheinlich haben diese Mängel sogar den Meister selbst heimlich sehr gestört; es mag für ihn eine große Demütigung gewesen sein, Fehler, die schon ein Anfänger vermied, nicht vermeiden zu können, für ihn, der sich immer auf die Natur berief. – wie lange ist es her, dass die ägyptische Plastik, die frühchristlichen Mosaiken, die chinesische Malerei, die Kunst der Naturvölker entdeckt sind? Nicht das Wissen gibt dem Kunst-Erbe seine Wirklichkeit, sondern die Wertung, das heißt die Liebe.

Silvers sah mich ironisch an, in stabilen Zeiten weniger, da hat das Kunstverständnis Zeit, sich über ein bis zwei Generationen hinweg zu entwickeln. Nach jedem Kriege findet eine Umschichtung der Vermögen statt, alte werden verloren, neue gebildet. Alte Sammlungen werden aufgelöst, Neureiche wollen Sammler werden. Nicht aus unstillbarer Liebe zur Kunst. Wie soll ein Grundstücksspekulant oder ein Waffenfabrikant sich auch so plötzlich entwickeln? Sie kommt erst nach ein paar Millionen. Zumeinst, weil die Frau es nicht mehr erträgt, keinen Monet zu haben, wenn die Johnsons schon zwei haben. Es ist wie mit den Cadillacs und Lincolns. Silvers lachte sein sanftes gutturales Lachen, das klang, als gluckste eine Quelle in seiner Brust. Die armen Bilder, sie werden in Sklaven verwandelt.

In keinem Fall bedarf die bildende Hand so sehr der naturhaften Spannung des Gelenkes, der Finger, des Daumenballens und des Zugriffs wie dann, wenn sie Natur nicht bloß in der seienden Wirklichkeit, sondern auch in den Erfindungen der Einbildungskraft wahrhaben will.
Ich liebte eine blaue Bronze, eine eierfarbene Schale, die in einem Glassschrank stand, und ich suchte sie zuerst auf. Sie war nicht poliert wie die grünen, zackigen Chou-Stücke, die zu dem herrlichen Altar gehörten, der in der Mitte des Raumes stand und dessen Bronzen glänzten wie Jade, mit einem Seidenschimmer des Alters darauf. Ich hätte sie gern ein paar Minuten in den Händen gehalten, aber alles war in Glaskästen, und dies aus gutem Grund, denn schon der unsichtbare Schweiß der Hände konnte diese kostbaren Stücke leicht beschädigen.

Eins findet sich ins andere. Die Form, der schöpferische Antrieb, das Mittel, der Gegenstand – jedes Einzelne hängt im Nächsten. Die Seiten sind nicht mehr zu unterscheiden. Wie bei einem Ei ist nicht zu sagen, was vorn und hinten sei, was rechts und links. Die Erscheinung ist komplex; alles ist überall und eins. Das Geheimnis des Komplexes ist aber der gemeinsame Grund, aus dem alles, allenthalben eine Vision seiner selbst, ins Ganze drängt: Natur. Exotische Kunst ist eine tiefe Paradoxie, in der Natur und Kunst dasselbe werden, ohne einen Augenblick aufzuhören, getrennt zu existieren. Absurd – doch dialektische Spannung ist die Feder alles irdischen Wesens. Wo es gelingt, These und Antithese in einen einzigen Sinn zusammenzuschmelzen, wird das Ergebnis paradox genannt. Es ist darum nicht minder tatsächlich. Wird dem Begriff das Europäische, das Geistreiche genommen, so wird er ein Schlüssel. Dass dem Paradoxen die Gestalt der Größe entsprechen könne (und dass eigentlich nur sie dem Paradoxen gemäß sei), wird aus exotischer Kunst begriffen.
Ich widersprach nicht. Die Wohnung war sehr kühl, in ihr war die leichte Grabesluft künstlich gekühlter und durchlüfteter Räume. Coopers Kopf leuchtete darin wie eine reife Tomate. Verstärkt wurde das noch durch die Einrichtung, die französisch war, Louis-Seize, fast alles gefasste oder vergoldete Stücke, zierlich, untermischt mit kleinem italienischen Sesseln und einer prachtvollen kleinen, gelben venezianischen Kommode. An den bespannten Wänden hingen französische Impressionisten.

Auf einem Tisch standen drei chinesische Bronzen und ein Paar Tang-Tänzerinnen. Ich blickte Cooper an. Was empfand er? Hätte er nicht lieber statt der Chou-Bronzen drei Trinkhumpen gehabt und statt der Tanz-Terrakotta Porzellanzwerge? Dort, sagte ich. An der Wand hinter den Bronzen. Die grünblaue Patina der Bronzen hat denselben Ton wie der Tutu der Tänzerin.

Sonderbarer Weise ärgerte mich das nicht, der röhrende Hirsch im Schlafzimmer versöhnte mich mit allem. Für Cooper war alles andere in seiner Wohnung leicht feindlich, und er verstand es nicht ganz. Ebenso wenig, wie er eigentlich verstand, dass man so viel Geld dafür ausgeben konnte.
So entfaltet und gepresst, so ausgebreitet und gedichtet (verdichtet) steht Kunst endlich im Kreise um das tägliche Leben, wird sie selbst vom täglichen Leben umstanden. Aber eher als die Kunst ist immer Leben und Natur in der Mitte aller Dinge. Statt in der Kunst zu wohnen, Bezugspunkt der Kunst zu sein, ihr herrschaftliches Subjekt zu bleiben, wohnen wir um die Kunst herum, als könne sie das Zentrum des Lebens sein.
Das Klassische verbraucht sich. In Bekundungen, die unsere Zeit nahe sind, vermindert es sich bis zu einer Dünnheit, deren nächste Grade schon nicht mehr gültig wären. Es sind viele Beispiele indischer Miniaturmalerei und Zeichnung aus späten Jahrhunderten, etwa dem achtzehnten, bekannt geworden, in denen eine klassische Überlieferung sich auch mit äußerster Mühe kaum noch hält. Die Linie hat ihren noblen Schwung, ihren zusammengepressten Reichtum, ihre klassische Gewissheit eingebüßt, und wenn man einer Zeichnung auch das Stadium des Entwurfes zugute hält, so ist doch der Vorabend der Dekadenz selbst unverkennbar. Die Spannung ist geschwunden. Die Feder ist lahm geworden. Die Erschlaffung des Klassischen hat angefangen.

Meine Gedanken gingen zurück zu der Zeit, als ich in Brüssel eine Taschenlampe bekam, damit ich in meinem Verlies nachts lesen konnte. Ich hatte versprochen, die Lampe nur nachts zu benützen und nur in meinem Verlies, das keine Fenster hatte. Mein Zimmer war monatelang in dichter Dunkelheit gelegen, und das einzige Licht, das ich kannte, war das bleiche Grau der Nächte gewesen, wenn ich die Kammer verlassen konnte, um vorsichtig in den Galerien umherzugespenstern. Die Taschenlampe, die man mir endlich anvertraut hatte, hatte mich zurückgeführt aus einem schattenhaften Lemurendasein in die Welt der Farbe. Ich hatte mich in den Nächten in meine Kammer gekauert, die ich zum ersten Mal im warmen Licht sah. Ich entdeckte die Seligkeit der Farbe wieder, wie jemand, der vollkommen farbenblind ist, oder ein Tier, dem der Bau seiner Augen die Welt nur in Nuancen von Grau zeigt. Ich erinnerte mich, dass ich den Tränen nahe gewesen war, als ich die erste bunte Offsetreproduktion eines Cezanne Aquarells vom Mont St. Victoire sah, dessen Original ich in der Galerie des Museums nur in dem trügerischen Helldunkel des Mondes gesehen hatte.

Die temperierten Phasen der Wildheit heißen Romantik und Barock. In der Romantik ist die Wildheit ihrer selbst bewusst geworden. Das Wilde wurde zur Sensation. Das Abenteuer wird geliebt. Man ist nicht mehr in der Region der Wildnis. Man begibt sich in sie; fährt aus, sie zu suchen.

Auch wird die Wildheit geadelt; ihr werden die Gebärden der Ritterlichkeit anerzogen. Das Barbarische ist fern wie dem Ritter der Urwald. Dass es der zeugende Boden war, aus dem Romantik hervorkam, bleibt fühlbar, so weit sie ihm auch entwachsen scheint. Das Wilde liegt noch auf dem Grunde der Feinheit.

Der Genuss auf einer Reise ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuss, ich muss die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muss ich bei Seite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werk entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewirkt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuss und um dessen Willen bin ich gereist, nicht um des augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen.
Es bleibt die Form, der wir am nächsten sind. Dies ist der Weg des Genius: von Grünewald, dem Barbaren, zu Poussin; von ihm, dem Edelsten der Klassiker, Umkehr zur Wildheit des Rembrandt; endlich durch geadelte Leidenschaft des Delacroix zu dem lateinischen Cezanne und zu den blutigen Mühlen des Marees, dessen Klassik ihr wildes Komplement nicht bei van Gogh suchen muss, sondern, ach, nur zu sehr in sich selbst findet.

Möchtest du so was haben? Fragte eine Frau in einem roten Kostüm eine andere. Heute trägt man Perlen, erwiderte die zweite Frau. Klasse trägt Perlen. Zuchtperlen oder echte? Zuchtperlen und echte. Perlen und ein schwarzes Kleid.

Christoph Westermeier, 2013


80 BÜCHER
14:25 min, gelesen von Raphael Westermeier