DER PARAGRAF
2025

Eine künstlerische Intervention im Luitpoldblock München im Rahmen der Ausstellung „Ein Haus ohne Mauern bauen“.

Ein Recherche- und Ausstellungsprojekt zu München nach 1945
in Zusammenarbeit mit Münchner Archiven und Institutionen

Hêlîn Alas, Ina Ettlinger, Dani Gal, Thomas Galler, Mariella Maier, Cora Piantoni, Beo Tomek & Caroline Kapp, Christoph Westermeier

Die Ausstellung versammelt Arbeiten von neun Künstler*innen, die in Archiven und Sammlungen zu München nach 1945 geforscht haben. Im Rahmen ihrer Recherche in Münchner Archiven entwickelten sie eigene Fragestellungen an die Nachkriegszeit, die sie künstlerisch visualisieren. Teil der Ausstellung sind ausgewählte Archivstücke, auf die sich die künstlerischen Positionen beziehen. Der Blick der Künstler*innen auf Fotos, Protokolle, Magazine und Berichte von Zeitzeug*innen eröffnet vielfältige Perspektiven auf den baulichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau. Die Bedeutung der Nachkriegszeit für unsere Gegenwart wird mit Themen wie dem Leben von Frauen, neuen Orten der Zusammenkunft, dem Auftreten von Autoritäten und pädagogischen Konzepten der Re-Education in Installationen, Filmen und Collagen lebendig.

Kuration: Cora Piantoni und Caroline Sternberg



Der Paragraf entstand in Zusammenarbeit mit dem Forum Queeres Archiv München

Rechersche im Forum Queeres Archiv München und künstlerische Herangehensweise:

Wenn ich mich als Künstler einem Archiv nähere, dann tue ich das nicht von einem wissenschaftlichen, sondern von einem künstlerischen Standpunkt aus. Ich betrachte keine abgeschlossenen Relikte einer vergangenen Zeit, sondern begegne kollegialen Positionen, mit denen ich in einen Dialog trete. Im Forum Queeres Archiv München traf ich so Charles Grieger (1902-1972) und Viktor Heye (1907-1975), die beide ganz unterschiedlich Betroffene des §175 waren.

Der §175 wurde als „Schwulenparagraf“ bezeichnet, da er die “gleichgeschlechtliche Unzucht“ zwischen Männern verbot. Der §175 war der einzige Paragraf, der in verschärfter Form nach 1945 und bis 1969 unverändert in Kraft blieb. Das NS-Regime inhaftierte 50.000 Männer und brachte 5.000 – 6.000 in Konzentrationslager. Dies hatte zur Folge, dass ehemalige KZ-Inhaftierte keine Entschädigung beantragen konnten, da sie sich im Falle eines Schadensersatzes einer Straftat bekundet hätten. Ehemalige Strafgefangene mussten ihre Gefängnisstrafe unverändert absitzen.

In der BRD wurden ca. 50.000 Männer weiterhin wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht verurteilt und erst nach der endgültigen Streichung des Paragrafen 1994 konnte mit einer schrittweisen Aufarbeitung begonnen werden.

BEGEGNUNG MIT CHARLES GRIEGER UND VIKTOR HEYE

Der Publizist Charles Grieger nutze seine graphischen und künstlerischen Fähigkeiten, um gegen die Restriktionen der Nachkriegsgesellschaft zu rebellieren. In der NS-Zeit hatte er bereits mit dadaistischen Graphikmappen gegen die nationalsozialistische Doktrin und den Militarismus rebelliert. Die von Grieger ab 1945 verlegten Zeitschriften PAN, Die Freunde, Wir Freundinnen, Die Freundschaft, Hellas und Humanitas wurden alle nach kurzer Zeit als „sittenwidrig“ verboten und mussten eigene Wege der Distribution finden. Im Forum Queeres Archiv München befindet sich das gesamte Konvolut der von Grieger herausgegebenen Zeitschrift Zwischen den Andern, die nur für kurze Zeit bestand. Im Impressum der Zeitschrift steht: „Diese Schriftenreihe ist im Handel nicht erhältlich und kein Geschäftsunternehmen.“

Für die Präsentation im Luitpoldblock wurden Fragmente daraus fotografisch aufgenommen und in die Gegenwart transferiert. Sie zeigen einen queeren Diskurs zwischen Verbot, Bildung, Glamour und Identität. Fotografische Fragmente aus der Zeitschrift Zwischen den Andern treten in einen künstlerischen Dialog mit dem persönlichen Lebensalbum von Viktor Heye. Dieses Lebensalbum spannt einen liebevoll mit Collagen und Zeichnungen gestalteten Bogen von den 1930er Jahren bis in die 1970er Jahre. Das Album kam als Flohmarktfund in das Forum Queeres Archiv München und wurde bereits 2022 im Haus der Kunst im Rahmen der Ausstellung Archives in Residence der Öffentlichkeit vorgestellt.

Im Zuge der Ausstellung Ein Haus ohne Mauern bauen konnte nun erstmals die Person Viktor Heye aus dem Schatten seines Albums heraustreten. Heye wurde 1907 in Bernkastel geboren und lebte ab 1932 als Handelsvertreter im europäischen Ausland. 1938 siedelte er nach Indien über und wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in einem zivilen Internierungslager interniert. Nach Kriegsende kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete ab 1947 für die American Express Company in München. Er lebte in Schwabing, wo er 1975 starb.

Im Staatsarchiv München findet sich eine ausführliche Spruchkammer-Akte zu Heye, die dokumentiert, wie er als Parteimitglied angeklagt wurde und mit seinem Rechtsanwalt Einspruch einlegte, um als Mitläufer gemäß Artikel 12 eingeordnet zu werden. Der Einspruch des Rechtsanwalts endet mit der Feststellung: „Zusammenfassend ist festzustellen, dass der in jungen Jahren in die Partei eingetretene Betroffene, nur nominell Parteimitglied war, an den Parteiveranstaltungen anfänglich nur insoweit teilnahm, als diese Zwang waren. Schon im Jahre 1933 wandte er sich ganz vom Nationalsozialismus ab. Seine nominelle Mitgliedschaft bei der Partei hielt er nur deshalb aufrecht, weil ohne diese Mitgliedschaft in Indien Beschäftigte bei einer deutschen Firma so gut wie unmöglich war. Er kann lediglich als Mitläufer bezeichnet werden.“ Das Verfahren wurde im März 1948 eingestellt und Viktor Heye trat danach nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt.

In seinem Lebensalbum ist davon nichts zu sehen. Wir sehen das Leben eines Mannes zwischen Schloss Rheinsberg und den Alpen, es gibt Bilder aus dem Berliner Olympiastadion mit zum Hitlergruß erhobenen Händen und Hintergründe, die auf außereuropäische Aufenthalte hinweisen; aber das vorherrschende Thema sind Darstellungen von Männern, bekleidet und nackt, von jung bis alt. Die Bilder zeigen ein freizügiges schwules Leben mit FKK und Fasching und nichts lässt erahnen, dass diese Leben im Verborgenen stattfinden mussten.

LEBEN IN DER VERBORGENHEIT

Viktor Heye scheint es gelungen zu sein, ein gut integriertes Leben in der Münchner Schwulenszene zu führen, ohne wegen des §175 behelligt zu werden. Charles Grieger entschied sich für einen Andern [ist das mit Absicht, heißt es nicht anderen?] Weg. Zwar ist kein Fall dokumentiert, bei dem er wegen Unzucht verurteilt wurde, doch führte seine publizistische Arbeit wiederholt zu juristischen Auseinandersetzungen. Dabei waren seine Magazine keinesfalls pornografisch, sondern suchten eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem §175 und stellten queere Geschichte schöngeistig der interessierten Öffentlichkeit vor.

Bei den hier verarbeiten Ausschnitten wird dieser Diskurs offensichtlich und verweist auf den Luitpoldblock als gesellschaftsträchtigen Begegnungsort. Das Film- und Gastronomiegeschäft sowie der Rote-Teppich haben seit jeher eine Affinität für das, was Susan Sontag als camp bezeichnet und das ein immanenter Bestandteil von queerer Identität ist. Wir wissen nicht, ob Viktor Heye Abonnent der Zeitschriften von Charles Geiger war und ob er oft im Luitpoldblock verkehrte. Was wir aber wissen, ist, dass beide stellvertretend für die Irrungen und Wirrungen und den Kampf um ein selbstbestimmtes queeres Leben im 20. Jahrhundert stehen.



DER PARAGRAF, VERWENDETE ARCHIVALIEN, 2025

„Zwischen den Andern“, alle Ausgaben der gleichnamigen Zeitschrift, zusammengebunden mit einem Faden, 1956-1957, 30 x 21 x 6 cm, Forum Queeres Archiv München

Dokumentation und einzelne Bilder, variable Größen, 2025






Der Paragraf

An artistic intervention in Munich's Luitpoldblock as part of the exhibition ‘Ein Haus ohne Mauern bauen’.

A research and exhibition project on Munich after 1945 in collaboration with Munich archives and institutions

Hêlîn Alas, Ina Ettlinger, Dani Gal, Thomas Galler, Mariella Maier, Cora Piantoni, Beo Tomek & Caroline Kapp, Christoph Westermeier

The exhibition brings together works by nine artists who have researched archives and collections on Munich after 1945. During their research in Munich archives, they developed their own questions about the post-war period, which they visualise artistically. The exhibition includes selected archive pieces to which the artistic positions refer. The artists' view of photos, transcripts, magazines and reports by contemporary witnesses opens up diverse perspectives on the architectural and social reconstruction. The significance of the post-war period for our present day is brought to life in installations, films and collages through themes such as the lives of women, new meeting places, the emergence of authorities and educational concepts of re-education.

Curated by: Cora Piantoni and Caroline Sternberg



Der Paragraf’ was created in collaboration with the Forum Queeres Archiv München

Research at the Forum Queeres Archiv München and artistic approach:

When I approach an archive as an artist, I do so not from a scientific but from an artistic point of view. I do not view them as closed relics of a bygone era, but encounter collegial positions with which I enter into dialogue. At the Forum Queeres Archiv München, I met Charles Grieger (1902-1972) and Viktor Heye (1907-1975), who were both affected by §175 in very different ways.

§175 was referred to as the ‘gay paragraph’ because it prohibited ‘same-sex indecency’ between men. §175 was the only paragraph that remained in force in its stricter form after 1945 and until 1969. The Nazi regime imprisoned 50,000 men and sent 5,000 to 6,000 to concentration camps. As a result, former concentration camp inmates were unable to apply for compensation because doing so would have been an admission of criminal activity. Former prisoners had to serve their prison sentences unchanged.

In the Federal Republic of Germany, approximately 50,000 men continued to be convicted of same-sex indecency, and it was not until the final repeal of the paragraph in 1994 that a gradual process of reappraisal could begin.

ENCOUNTER WITH CHARLES GRIEGER AND VIKTOR HEYE

The publicist Charles Grieger used his graphic and artistic skills to rebel against the restrictions of post-war society. During the Nazi era, he had already rebelled against Nazi doctrine and militarism with Dadaist graphic portfolios. The magazines published by Grieger from 1945 onwards, PAN, Die Freunde, Wir Freundinnen, Die Freundschaft, Hellas, andHumanitas, were all banned after a short time as ‘immoral’ and had to find their own ways of distribution. The Forum Queeres Archiv München holds the entire collection of the magazine Zwischen den Andern, published by Grieger, which only existed for a short time. The magazine's imprint states: ‘This series of publications is not available in stores and is not a commercial enterprise.’

For the presentation in the Luitpoldblock, fragments were photographed and transferred to the present day. They reveal a queer discourse between prohibition, education, glamour and identity. Photographic fragments from the magazine Zwischen den Andern enter into an artistic dialogue with Viktor Heye's personal life album. This life album lovingly spans the 1930s to the 1970s with collages and drawings. The album was found at a flea market and came to the Forum Queeres Archiv München, where it was presented to the public in 2022 at the Haus der Kunst as part of the exhibition Archives in Residence.

In the course of the exhibition Ein Haus ohne Mauern bauen, Viktor Heye has now been able to step out of the shadows of his album for the first time. Heye was born in Bernkastel in 1907 and lived as a sales representative in other European countries from 1932 onwards. In 1938, he moved to India and was interned in a civilian internment camp at the outbreak of the Second World War. After the war, he returned to Germany and worked for the American Express Company in Munich from 1947 onwards. He lived in Schwabing, where he died in 1975.

The Munich State Archives contain a detailed denazification file on Heye, documenting how he was accused of being a party member and how he and his lawyer lodged an appeal to be classified as a follower under Article 12. The lawyer's appeal ends with the statement: "In summary, it can be concluded that the person concerned, who joined the party at a young age, was only a nominal party member and initially participated in party events only to the extent that these were compulsory. He turned his back on National Socialism as early as 1933. He only maintained his nominal membership of the party because without it it was virtually impossible for employees of a German company to work in India. He can only be described as a follower." The proceedings were discontinued in March 1948 and Viktor Heye did not come into conflict with the law again.

There is no mention of this in his life album. We see the life of a man between Rheinsberg Castle and the Alps, there are pictures from the Berlin Olympic Stadium with hands raised in the Hitler salute and backgrounds that indicate stays outside Europe; but the predominant theme is depictions of men, clothed and naked, from young to old. The pictures show a permissive gay life with nudism and carnival, and there is nothing to suggest that this life had to be lived in secret.

LIFE IN SECRET

Viktor Heye seems to have managed to lead a well-integrated life in Munich's gay scene without being bothered by paragraph 175. Charles Grieger chose a different path. Although there is no documented case in which he was convicted of indecency, his journalistic work repeatedly led to legal disputes. His magazines were by no means pornographic, but sought an intellectual examination of paragraph175 and presented queer history to an interested public in an aesthetic manner.

The excerpts presented here make this discourse evident and point to the Luitpoldblock as a socially significant meeting place. The film and restaurant business, as well as the red carpet, have always had an affinity for what Susan Sontag called ‘camp,’ which is an intrinsic part of queer identity. We do not know whether Viktor Heye was a subscriber to Charles Geiger's magazines or whether he was a frequent visitor to the Luitpoldblock. What we do know, however, is that both represent the trials and tribulations and the struggle for a self-determined queer life in the 20th century.



DER PARAGRAF, ARCHIVAL MATERIALS USED, 2025

Zwischen den Andern, all issues of the magazine of the same name, bound together with thread, 1956–1957, 30 x 21 x 6 cm, Forum Queeres Archiv München

Documentation and individual images, various sizes, 2025