Vom Werden und Vergehen.
Eine Review von Nelly Gawellek
Der Empfangspavillon der internationalen Weltausstellung wird erst zur öffentlichen Toilette, dann zum Gemeindezentrum, dann zum Ausstellungsort; ein geliebter Gegenstand zu nostalgischem Kitsch, zur Ware, zu Abfall; das Gefundene zum Foto-Motiv, zum künstlerischen Gegenstand, zu einer Installation. Es ist der Lauf der Dinge, dass sie nicht bleiben, was sie waren. Etwas wird hergestellt, in die Welt gegeben, betrachtet, bewertet, benutzt, gebraucht, verbraucht, entsorgt, gefunden, wiederbelebt…
Für die Dauer eines Wochenendes, im Februar 2021, findet sich im ausgedienten und immer wieder unterschiedlich genutzten Empfangspavillon der Expo 1958 in Brüssel folgende Konstellation: Unter dem Titel “Der Magen Europas II” arrangieren die Künstler Jurgen Ots und Christoph Westermeier auf drei Tischen Fotografien, Bücher und Collagen. Assoziative Gruppen von Gegenständen – eine abgegriffene Ausgabe von Baudelaires “Les Fleurs du Mal” vor einer alten Reklametafel, burgunderfarbener, angestaubter Samt auf einer Art Teller drapiert, dahinter ein Buch über den Sonnenkönig Louis XIV, das Futteral eines Löffelsets ohne das dazugehörige Besteck. Die Objekte verströmen den morbiden Charme des Ausgedienten. Sie werden gehalten von schwarzen Stützen, die sich merkwürdig hervortun. Sie sind ein bisschen zu auffällig, zu kokett, um einfach nur ihre Funktion zu erfüllen und wirken fast stolz, so, als würden sie die Aufmerksamkeit genießen, die ihnen plötzlich zu Teil wird.
Ikonische Werke, die längst zu Klischees geronnen sind, Verpackungen, die nur noch auf ihren einstigen Inhalt verweisen und dazwischen Fotografien von leeren Bilderrahmen oder verwahrlosten Schaufensterdisplays. Verweise auf Gegenstände, die ihren Status verloren oder verändert haben und die hier in der gläsernen Rotunde, vor einem roten, protzig glänzenden Vorhang, der die Szenerie umfängt, erneut zur Aufführung kommen. Alle Zeichen deuten auf Transformation, auf Wandel und Vergehen. Nicht nur die Motive selbst – leere Gefäße, Muscheln, Besteck, gefaltete Stoffe – auch die Arrangements auf Tischen erinnern an die Symbolik der Vanitas. Deren sich verändernde Erscheinungsformen charakterisierten einst selbst eine Phase des Übergangs zwischen Mittelalter und Neuzeit, in der die Kunst sich immer souveräner mit ihrer eigenen Oberflächlichkeit und Eitelkeit auseinandersetzte und auch Leben und Tod bald nicht mehr das sein sollten, was sie einmal waren.
Jurgen Ots sammelt und findet Gegenstände, oftmals auf dem wohl berühmtesten Flohmarkt Brüssels auf der “Place du Jeu de Balle”. Jeden Tag spielt sich hier ein seltsames Schauspiel ab: Nach dem offiziellen Ende des Verkaufs werden unverkaufte Waren zurückgelassen. Achtlos auf dem Boden liegend, aber auch in Form liebevoller kleiner Mini-Displays auf Bordsteinen aufgereiht, bleiben die Reste noch für einen kurzen Moment verfügbar, bevor sie von der Müllabfuhr eingesammelt und entsorgt werden. Vor den Augen der Besucher*innen vollzieht sich hier inmitten Europas jeden Tag in rasanter Geschwindigkeit die Verwandlung all dieser Dinge, von Gegenständen mit eigener Lebensgeschichte, zu Handelswaren oder Sammelobjekten bis hin zum Abfall. Diese Transformation kann analog zu all den anderen uns umgebenden “Verdauungsgängen” verstanden werden, von globalen Wertschöpfungsketten bis hin zu politischen Aushandlungsprozessen.
Bis sie (manchmal) Eingang in seine künstlerische Arbeit finden, etwa zu Collagen verarbeitet oder zu Readymades werden, lebt Jurgen Ots mit den Objekten, die er auf dem Flohmarkt findet und die dem Fotografen Christoph Westermeier schließlich in Ots’ Wohnung auffallen und wiederum zu Motiven seiner eigenen Fotos werden. Man sollte eigentlich meinen, dass die Fragen nach der Autorschaft von Kunst weitestgehend geklärt sind, doch in diesem Moment der Appropriation durch Westermeiers Kamera tritt eine Spannung auf und die Frage nach deren Legitimität wird zum Schlüsselmoment. Die Konstellation verändert sich. Fast wäre es einfach weitergegangen und man hätte später nur noch das Vorher und Nachher, das ursprüngliche Objekt und die Fotografie erkannt, doch der Konflikt markiert den Moment des Dazwischen und rückt ihn in den Mittelpunkt, lässt ihn zum Startpunkt einer Zusammenarbeit werden, die sich nach einer ersten gemeinsamen Ausstellung 2020 in Düsseldorf nun zum zweiten Mal räumlich manifestiert. Und vielleicht lässt sich die temporäre Konstellation in der gläsernen Rotunde sogar am treffendsten als eine Inszenierung dieses kurzen Moments verstehen, in dem die Dinge ins Wanken kommen und sich eine Transformation in Gang setzt. Die feinen, kaum spürbaren Übergänge zwischen dem eigens Geschaffenen und den Readymade-Objekten, der intensive Geruch des Latex-Vorhangs, der sich bald verflüchtigen wird, der passageartige Charakter der Architektur. Nicht zuletzt auch die auf Fortsetzung angelegte Kollaboration von verschiedenen beteiligten Kuratoren, Designer*innen, Fotografen und Autor*innen und die nur ein Wochenende andauernde Installation in der Rotunde.
Unweigerlich fragt man sich nun wohl auch, was aus dem Arrangement geworden ist, das natürlich nicht zuletzt auch die Mechanismen des Kunstbetriebs verhandelt? Wo befinden wir uns im Verwertungsprozess, nachdem die Objekte in das System zeitgenössischer Kunst eingespeist wurden? Welche Rolle spielt die fotografische Dokumentation, die das Dagewesene nicht nur bezeugt, sondern selbst inszeniert – welche ein Text, der nie nur beschreiben kann, sondern immer auch deutet und interpretiert? Genau für diese eigentlich omnipräsenten, aber dennoch instabilen und kaum wahrnehmbaren Momente schärft die Ausstellung den Blick, für die Zwischenstadien, in denen sich etwas neu ordnet, für das ewige Werden und Vergehen, das wir überall beobachten können, wenn wir hinschauen.
Nelly Gawellek
Veröffentlicht auf KubaParis, 2021
"DER MAGEN EUROPAS II"
Artists Jurgen Ots & Christoph Westermeier
Curator Haris Giannouras
Text Haris Giannouras
Graphic Design Atelier Brenda
Scenography Alessandro Cugola
Venue Rotonde 58, Eeuwfeestlaan, 1O2O BXL (next to the Atomium)
Exhibition Period 27–28 Feb 2021
Works collaborative installation consisting of found objects, collages
(Jurgen Ots), photography / c-print, diasec (Christoph
Westermeier), dimensions variable, 2021
Documentation GRAYSC, Brussels, 2021
Eine Review von Nelly Gawellek
Der Empfangspavillon der internationalen Weltausstellung wird erst zur öffentlichen Toilette, dann zum Gemeindezentrum, dann zum Ausstellungsort; ein geliebter Gegenstand zu nostalgischem Kitsch, zur Ware, zu Abfall; das Gefundene zum Foto-Motiv, zum künstlerischen Gegenstand, zu einer Installation. Es ist der Lauf der Dinge, dass sie nicht bleiben, was sie waren. Etwas wird hergestellt, in die Welt gegeben, betrachtet, bewertet, benutzt, gebraucht, verbraucht, entsorgt, gefunden, wiederbelebt…
Für die Dauer eines Wochenendes, im Februar 2021, findet sich im ausgedienten und immer wieder unterschiedlich genutzten Empfangspavillon der Expo 1958 in Brüssel folgende Konstellation: Unter dem Titel “Der Magen Europas II” arrangieren die Künstler Jurgen Ots und Christoph Westermeier auf drei Tischen Fotografien, Bücher und Collagen. Assoziative Gruppen von Gegenständen – eine abgegriffene Ausgabe von Baudelaires “Les Fleurs du Mal” vor einer alten Reklametafel, burgunderfarbener, angestaubter Samt auf einer Art Teller drapiert, dahinter ein Buch über den Sonnenkönig Louis XIV, das Futteral eines Löffelsets ohne das dazugehörige Besteck. Die Objekte verströmen den morbiden Charme des Ausgedienten. Sie werden gehalten von schwarzen Stützen, die sich merkwürdig hervortun. Sie sind ein bisschen zu auffällig, zu kokett, um einfach nur ihre Funktion zu erfüllen und wirken fast stolz, so, als würden sie die Aufmerksamkeit genießen, die ihnen plötzlich zu Teil wird.
Ikonische Werke, die längst zu Klischees geronnen sind, Verpackungen, die nur noch auf ihren einstigen Inhalt verweisen und dazwischen Fotografien von leeren Bilderrahmen oder verwahrlosten Schaufensterdisplays. Verweise auf Gegenstände, die ihren Status verloren oder verändert haben und die hier in der gläsernen Rotunde, vor einem roten, protzig glänzenden Vorhang, der die Szenerie umfängt, erneut zur Aufführung kommen. Alle Zeichen deuten auf Transformation, auf Wandel und Vergehen. Nicht nur die Motive selbst – leere Gefäße, Muscheln, Besteck, gefaltete Stoffe – auch die Arrangements auf Tischen erinnern an die Symbolik der Vanitas. Deren sich verändernde Erscheinungsformen charakterisierten einst selbst eine Phase des Übergangs zwischen Mittelalter und Neuzeit, in der die Kunst sich immer souveräner mit ihrer eigenen Oberflächlichkeit und Eitelkeit auseinandersetzte und auch Leben und Tod bald nicht mehr das sein sollten, was sie einmal waren.
Jurgen Ots sammelt und findet Gegenstände, oftmals auf dem wohl berühmtesten Flohmarkt Brüssels auf der “Place du Jeu de Balle”. Jeden Tag spielt sich hier ein seltsames Schauspiel ab: Nach dem offiziellen Ende des Verkaufs werden unverkaufte Waren zurückgelassen. Achtlos auf dem Boden liegend, aber auch in Form liebevoller kleiner Mini-Displays auf Bordsteinen aufgereiht, bleiben die Reste noch für einen kurzen Moment verfügbar, bevor sie von der Müllabfuhr eingesammelt und entsorgt werden. Vor den Augen der Besucher*innen vollzieht sich hier inmitten Europas jeden Tag in rasanter Geschwindigkeit die Verwandlung all dieser Dinge, von Gegenständen mit eigener Lebensgeschichte, zu Handelswaren oder Sammelobjekten bis hin zum Abfall. Diese Transformation kann analog zu all den anderen uns umgebenden “Verdauungsgängen” verstanden werden, von globalen Wertschöpfungsketten bis hin zu politischen Aushandlungsprozessen.
Bis sie (manchmal) Eingang in seine künstlerische Arbeit finden, etwa zu Collagen verarbeitet oder zu Readymades werden, lebt Jurgen Ots mit den Objekten, die er auf dem Flohmarkt findet und die dem Fotografen Christoph Westermeier schließlich in Ots’ Wohnung auffallen und wiederum zu Motiven seiner eigenen Fotos werden. Man sollte eigentlich meinen, dass die Fragen nach der Autorschaft von Kunst weitestgehend geklärt sind, doch in diesem Moment der Appropriation durch Westermeiers Kamera tritt eine Spannung auf und die Frage nach deren Legitimität wird zum Schlüsselmoment. Die Konstellation verändert sich. Fast wäre es einfach weitergegangen und man hätte später nur noch das Vorher und Nachher, das ursprüngliche Objekt und die Fotografie erkannt, doch der Konflikt markiert den Moment des Dazwischen und rückt ihn in den Mittelpunkt, lässt ihn zum Startpunkt einer Zusammenarbeit werden, die sich nach einer ersten gemeinsamen Ausstellung 2020 in Düsseldorf nun zum zweiten Mal räumlich manifestiert. Und vielleicht lässt sich die temporäre Konstellation in der gläsernen Rotunde sogar am treffendsten als eine Inszenierung dieses kurzen Moments verstehen, in dem die Dinge ins Wanken kommen und sich eine Transformation in Gang setzt. Die feinen, kaum spürbaren Übergänge zwischen dem eigens Geschaffenen und den Readymade-Objekten, der intensive Geruch des Latex-Vorhangs, der sich bald verflüchtigen wird, der passageartige Charakter der Architektur. Nicht zuletzt auch die auf Fortsetzung angelegte Kollaboration von verschiedenen beteiligten Kuratoren, Designer*innen, Fotografen und Autor*innen und die nur ein Wochenende andauernde Installation in der Rotunde.
Unweigerlich fragt man sich nun wohl auch, was aus dem Arrangement geworden ist, das natürlich nicht zuletzt auch die Mechanismen des Kunstbetriebs verhandelt? Wo befinden wir uns im Verwertungsprozess, nachdem die Objekte in das System zeitgenössischer Kunst eingespeist wurden? Welche Rolle spielt die fotografische Dokumentation, die das Dagewesene nicht nur bezeugt, sondern selbst inszeniert – welche ein Text, der nie nur beschreiben kann, sondern immer auch deutet und interpretiert? Genau für diese eigentlich omnipräsenten, aber dennoch instabilen und kaum wahrnehmbaren Momente schärft die Ausstellung den Blick, für die Zwischenstadien, in denen sich etwas neu ordnet, für das ewige Werden und Vergehen, das wir überall beobachten können, wenn wir hinschauen.
Nelly Gawellek
Veröffentlicht auf KubaParis, 2021
"DER MAGEN EUROPAS II"
Artists Jurgen Ots & Christoph Westermeier
Curator Haris Giannouras
Text Haris Giannouras
Graphic Design Atelier Brenda
Scenography Alessandro Cugola
Venue Rotonde 58, Eeuwfeestlaan, 1O2O BXL (next to the Atomium)
Exhibition Period 27–28 Feb 2021
Works collaborative installation consisting of found objects, collages
(Jurgen Ots), photography / c-print, diasec (Christoph
Westermeier), dimensions variable, 2021
Documentation GRAYSC, Brussels, 2021
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