DAS INNERE LEBEN DER DINGE
2022


Der Mensch lebt nur einmal – und selbst dieses eine Leben ist in einer aus allen Fugen geratenen Welt fragwürdig geworden.
Gleichwohl müssen wir in dieser unserer Welt, in unserer Zeit leben; wir können unsere Hoffnung in eine bessere Zukunft, unsere Sehnsucht in eine schönere Vergangenheit flüchten – aber unser Dasein ist an die Gegenwart gebunden.
Die Zeit überrennt, die Zeit unterströmt uns. Zeitungen und Zeitschriften, Film und Funk – und bald gar noch das Fernsehen – zerreißen unsere bislang noch leidlich geschlossene Welt, sie dringen zerstörend in die letzten Schutzbereiche unserer Persönlichkeit. Wirtschaftliche Not, die den meisten nur die Wahl zwischen Armut und Überanstrengung lässt, verzehrt die letzten Kräfte der Selbstbesinnung. Viele Menschen wissen es gar nicht mehr – und wollen es in ihrer Verletztheit schließlich nicht mehr wissen – wie weit schon ihr Leben im Sog der Massenbewegung dahintreibt.
Wer sich aber seines einmaligen Daseins bewusst ist, wer noch in der Bedrohung seiner Seele spürt, der sucht sich an etwas zu halten. Eine innere Stimme mahnt ihn zum Widerstand – und es ist mehr als ein Wortspiel, wenn wir sagen, dieser Widerstand klammert sich an den Gegenstand.

Die Entfremdung zwischen Kunst und Handwerk hat uns seinerzeit den Kitsch gebracht; in ihm lebte, so sehr wir uns freuen dürfen, ihn – wenigstens in unserem Bereich – weitgehend ausgemerzt zu haben, noch eine echte, wenn auch irregeleitete Liebe, ähnlich dem Aberglauben, in dem ein Rest vom Glauben bleibt. Die verlorene oder noch nicht erreichte Sicherheit des Geschmacks lässt sich – dafür ist die ganze Entwicklung der letzten Jahrzehnte ein Beispiel – in erzieherischer Arbeit gewinnen und ausbauen.
Weit bedrohlicher jedoch ist der klaffende Spalt zwischen dem – künstlerisch längst wieder gefestigten – Handwerk und weiten Kreisen der Industrie geworden. Denn er hat uns den Schund gebracht, der durch nichts mehr zu entschuldigen ist, auch nicht durch die dreiste Behauptung seiner Hersteller, das Publikum verlange ihn selbst. Mit allen Machtmitteln wird er ins Volk gepresst, selbst böse - und ohne die kleinste Liebenswürdigkeit, die sogar dem Kitsch noch zuzubilligen ist -, erzeugt er weiter das Böse in Massen für die Massen. Ein einziger schaudernder Blick in gewisse Läden unsere Städte und Kurorte genügt für die Erhärtung dieser Behauptung.
Es gibt zwei Arten von Schund: Der eine ist schlecht und billig, der andere ist schlecht und teuer. Und dieser ist der weitaus gefährlichere; denn diese toten Dinge, in denen nicht mehr der leiseste Herzschlag des Schöpferischen lebt, sind mitunter für den verblendeten Blick des Ahnungslosen von einer tückischen Ähnlichkeit mit dem Guten, sie enthüllen ihre ganze Schäbigkeit erst, wenn der enttäuschte Kunde sie im Gebrauch hat und wenn sie sich bewähren sollen.

Eugen Roth, „Das innere Leben der Dinge“, erschienen in „Bayerisches Kunsthandwerk von Heute“, München 1952, S. XI bis XIII.

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Man lives only once - and even this one life has become questionable in a world that has come apart at the seams. Nevertheless, we have to live in this world of ours, in our time; we can flee our hope into a better future, our longing into a more beautiful past - but our existence is bound to the present.Time overruns, time undercurrents us. Newspapers and magazines, film and radio - and soon even television - are tearing apart our hitherto still reasonably closed world, they are penetrating destructively into the last protective areas of our personality. Economic hardship, which leaves most people only the choice between poverty and overexertion, consumes the last forces of self-contemplation. Many people no longer even know - and in their woundedness ultimately no longer want to know - how far their lives are already drifting in the wake of the mass movement.But those who are aware of their unique existence, who still feel the threat to their soul, try to hold on to something. An inner voice exhorts him to resist - and it is more than a play on words when we say that this resistance clings to the object.
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The alienation between art and craft brought us kitsch in its time; in it, as much as we may be glad to have largely eradicated it - at least in our sphere - there still lived a genuine, if misguided love, similar to superstition, in which a remnant of faith remains. The lost or not yet achieved security of taste can be gained and developed - the whole development of the last decades is an example of this - through educational work.Far more threatening, however, has become the gaping chasm between craftsmanship - which has long since regained its artistic strength - and wide circles of industry. For it has brought us trash that can no longer be excused by anything, not even by the brazen claim of its producers that the public demands it itself. With all the means of power it is pressed into the people, even evil - and without the slightest kindness, which even kitsch can still be granted - it continues to produce evil in masses for the masses. A single shuddering glance at certain shops in our towns and spas is enough to substantiate this assertion.There are two kinds of trash: one is bad and cheap, the other is bad and expensive. And the latter is by far the more dangerous; for these dead things, in which no longer lives the faintest heartbeat of the creative, are sometimes for the blinded gaze of the unsuspecting of a treacherous resemblance to the good, they reveal their whole shabbiness only when the disappointed customer has them in use and when they are to prove themselves.

Eugen Roth, "Das Innere Leben der Dinge", published in "Bayerisches Kunsthandwerk von Heute", Munich 1952, pp. XI to XIII.


DAS INNERE LEBEN DER DINGE, 2022

analog photography, each 30 x 45 cm, C-Print, 1/3, 2022