PESTDOKTOR
2018


Als Tante Entchen in den späten 80er Jahren starb, öffnete sich für meinen Bruder und mich ein geheimes Reich voller versteckter Münzen, Tischen und Decken, Bildern und Büchern. Tante Entchen war von dem Wunsch beseelt gewesen, da leider nicht als Prinzessin geboren, so doch wenigstens zur Herzogin oder mindestens zur Gräfin aufzusteigen. Stattdessen blieb ihr als Kind Geschiedener nichts anderes übrig, als sich die imaginäre Welt eines Edelfräuleins aufzubauen. Ihren Tagesablauf verbrachte sie als Sekretärin in der Samenhandlung meines Großonkels Willi, der sich seinerseits in religiöse Scheinwelten flüchtete und von der Existenz eines Abts, Bischof oder Nuntius träumte. Während Onkel Willi in der Deutschen Messe Schuberts aufging, baute sich Tante Entchen mit Annette von Droste Hülshoff eine Ersatzheilige auf. Diese Westfälische Dichterin, die immer von zwei Worten das derbste und schmuckloseste wählte und zum Beispiel ein störrisches Pferd viel lieber einen bockenden Gaul als ein sich bäumendes Ross nannte, diente als Role-Model für Tante Entchen. Dabei wage ich zu bezweifeln, dass sie jemals eine Zeile von ihr gelesen hat. Vielmehr war es die ungewöhnlich reiche Fülle hellblonden Haares, das zu einer hohen Krone aufgewunden auf dem Scheitel befestigt war, dass Haare des Edelfräuleins also, das es der Tante angetan hatte. Allgemein das Äußere zählte mehr in dieser Beziehung, denn dies machte bei beiden einen eigentümlichen Eindruck: diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende, bis zur Unkörperlichkeit zarten Gestalten hatten etwas Fremdartiges, Elfenhaftes; sie waren fast wie Gebilde aus einem Märchen. So standen die Bücher in edles Leinen gebunden bei der Tante als Zierde und machten sich gut als Hintergrund für Röschen aus Meissner Porzellan. Die Röschen machten den größten Teil ihrer Porzellansammlung aus, doch ihr ganzer Stolz waren zwei metergroße Vasen der gleichen Manufaktur, die, reich verziert mit Flora und Fauna, eher an Madame Pompadour erinnerten als an westfälischen Pragmatismus. Meine Mutter wuchs in dem Bewusstsein heran, dass diese beiden Vasen, addiert mit den restlichen Kostbarkeiten aus Porzellan, für ein Ferienhaus in der Toskana oder ein Cottage in Cornwall stehen und so macht sie der Tod der Tante zu einer eingebildeten Reichen. Madame Pompadour listete in ihrem Testament von 1764 unter dem Punkt „Altes Porzellan“ einen Gesamtwert von 150.000 Livres für ihr weisses Gold auf. Wenn man bedenkt, dass ein Drucker, der an der Produktion der Enzyklopädie mitwirkte, am Tag 2 Livres verdiente, was einem heutigen Wert zwischen 10 und 30 Euro entspricht und das Pferd eines Handlungsreisenden 100 Livres, was einem Gegenwert von 500 bis 1500 Euro entspricht kostete, wähnte sich meine Mutter bereits in Pompadourschen Umständen. Westfälische Nüchternheit hatte selbstverständlich dafür gesorgt, dass die Sammlung Tante Entchens viel kleiner ausfiel als die der großen Mätresse, aber meine Mutter rechnete damit, dies mit dem Faktor Zeit wieder wettzumachen. Nun zog sich die Wohnungsauflösung dahin und allerhand ungeahnte Dinge tauchten am Horizont auf, so dass die Zeit ins Land strich. Die Vögel zogen nach Süden und als sie wiederkamen, hatte sich ein eiserner Vorhang geöffnet und glückstrunken lagen sich wildfremde Menschen in den Armen. Als meine Mutter sich schließlich um die Veräußerung des weißen Goldes kümmerte, war der Markt längst mit Meissener Porzellan überflutet: Die Hoffnung auf eine schöne Neckermann Reise hatte die Menschen aus den neuen Ländern ihr ererbtes Gut veräußern lassen und so wurde meiner Mutter ein Angebot gemacht, dass all ihre Träume im Keim erstickte. Enttäuscht und entsetzt ob dieser harten Konfrontation mit der Realität, wollte sie den Plunder nur noch abstoßen, ein Vorgehen, das bedauerlich erscheinen mag, aber doch viel ehrenwerter ist als das der Nana, die sich von ihrem Gönner ein reich verziertes antikes Porzellandöschen wünschte, um es, sobald er es ihr ehrerbietig überreicht hatte, mit einem leichten Seufzer auf dem Boden zerschellen zu lassen.

Christoph Westermeier, 2018

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Six direct prints on PVC Foil, 20 mm, installation view, Questioning Photography Now, Galaxy Contemporary Art Museum Chongqing, 2018